Worte wie Arsen

Henry Hohmann ist Transaktivist und setzt sich seit über 10 Jahren für die Rechte von trans Menschen ein. Von 2012 bis 2018 war er Präsident bzw. Co-Präsident von Transgender Network Switzerland.

Tag für Tag erhalte ich meine persönliche «Trans-Presseschau» von Google Alerts aus dem Netz. Mittlerweile haben sich diese zu einer Quelle von Hass und Transfeindlichkeit entwickelt. Und es gibt immer mehr Plattformen und Journale, die nichts anderes als Aufregerthemen aus der rechten Ecke bewirtschaften.

Die Inhalte sind holzschnittartig formuliert und zudem weitgehend faktenbefreit. Einige Schlagzeilen der letzten Tage können dies veranschaulichen: Biologische Männer unterwandern als «Transgender» den Frauensport – Transgenderismus ist sozial ansteckend – Nordische Bischöfe verurteilen Transgender-Ideologie – Bud Light: Kulturkampf um «wokes» Bier entbrennt in USA – Transgenderismus: nicht nur ein Angriff auf die Biologie, sondern auch Umerziehungsprojekt der Globalisten – Transgender-Extremistin richtet Blutbad in Schule an – Verbot von Transgender-Propaganda an Schulen in den USA – Genderwahn an Schulen – Linker Gender-Irrsinn ist ein Akt des Kindesmissbrauchs.

 

Es fällt auf, dass bestimmte Begriffe immer wieder fallen und eindeutig als Kampfbegriffe fungieren: Transgenderismus, Ansteckung, Ideologie, Kulturkampf, woke, Umerziehung, Extremismus, Propaganda, Genderwahn, Missbrauch etc. Was in rechten und fundamentalistischen Medien platt und offensichtlich verwendet wird, hat sich jedoch längst schon in den Mainstream hinübergeschlichen. Beschreibungen wie «immer jünger», «eine Welle von», «Spaltung», «Verbannung von» weisen auch dort auf Veränderungen hin und schüren subtil Ängste. 

 

Victor Klemperer, der Autor von «LTI [Lingua Tertii Imperii ]. Notizbuch eines Philologen», hat in seinen Tagebüchern die schleichende Sprachveränderung im Nationalsozialismus notiert und analysiert. Für ihn war klar: Nicht einzelne Reden von Nazi-Grössen, Flugblätter oder Propagandaschriften haben die Sprache und damit das Denken der Menschen besonders beeinflusst, sondern die stereotype Wiederholung der immer gleichen, mit nationalsozialistischen Vorstellungen neu besetzten Begriffe. «Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.»

 

Aber halt! Nazi-Sprache? So weit sind wir aber noch nicht. Oder? Den «woken Genderwahn» in der Schweiz zu bekämpfen hat sich jetzt die SVP als Wahlkampfthema ausgesucht. Doch in vielen Ländern sind bereits Taten gefolgt: Mehr als 300 Gesetze und Gesetzesentwürfe, die sich gegen trans Menschen richten, gab es in den USA allein in den ersten drei Monaten (!) dieses Jahres. Das «christliche Bollwerk» Ungarn ruft mit einem neuen Gesetz auf, trans Menschen oder Regenbogenfamilien zu denunzieren. Der türkische Ministerpräsident will «aktiv gegen perverse Tendenzen wie LGBT vorgehen, die unsere Familienstruktur bedrohen». Und selbst in Grossbritannien will die rechte Regierung die Definition von Frauen und Männern nur auf die «Biologie» zurückführen, was weitgehende Konsequenzen für Gleichstellung und Schutz vor allem von trans Frauen und nicht-binären Personen haben wird. Und das Lemkin Institut for Genocid Prevention spricht schon längst von faschistischen Anti-Trans-Bewegungen und verwendet das Wort Genozid.

 

Text: Henry Hohmann