Kritik und Grosszügigkeit

Eins gerade mal vorweg: Ich bin richtig Fan von Edouard Louis. Als letzten November eine Lesung in Zürich angekündigt wurde, habe ich mir blitzschnell Tickets besorgt. Ein Freund von mir witzelte, ich könne ja ein Interview mit ihm organisieren, wenn ich ihn so dringend treffen wolle. Genau das habe ich gemacht. 

Edouard Louis ist ein Schriftsteller, aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs. Mit lockerer Sprache bieten seine Bücher einen tiefen Einblick in die Erlebnisse eines schwulen Mannes aus der Arbeiter*innenklasse. Mit meinen 28 Jahren - ein Jahr jünger als Edouard Louis - scheint mir die Homophobie, das prekäre Familienverhältnis und die Identitätssuche des Autors ungeheuer vertraut. Als er plötzlich vor mir steht, kribbelt es unter meiner Haut. Weil ich so überwältigt bin, fange ich einfach von vorne an. Dort, wo mein queeres Leben begonnen hat und seines vielleicht auch. 

 

Mythologien und Lügen

Früher wurde Edouard Louis bespuckt, die Klassenkamerad*innen riefen ihm Schwuchtel hinterher. Nun sitzt er vor mir in der Hotel-Lobby, wir haben beide die Fingernägel lackiert und ich frage ihn, ob er denn heute glücklich ist, schwul zu sein. «Ich bin nicht nur glücklich weil ich meinen Alltag geniessen kann und weil ich viel mehr Freiheit in der Community spüre, sondern auch, weil mich rückblickend genau dieses Leiden und die Erniedrigung gerettet haben, seltsamerweise.»

Seine Antworten sind ehrlich und direkt, doch schnell merke ich auch, dass Edouard Louis gerne tiefer gräbt, wenn er sich mit sich selbst und seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Die schlimmen Erfahrungen seiner Kindheit will Edouard Louis auf keinen Fall entschuldigen. Er präzisiert: «Meine Erfahrung als schwuler Junge wird zu einem Weg, die Mythologien und Lügen rückgängig zu machen, die über die Welt erzählt werden, in der wir leben.» 

Der Diskurs zum Coming-Out ist für ihn vielschichtiger, als er in der Öffentlichkeit ausfällt. Geschichten wie Billie Elliot, über brillante Kinder, die am falschen Ort aufgewachsen sind, verfälschten die Art, wie Edouard Louis über sein Coming-Out nachdenkt. Dabei spielen die Klassenunterschiede eine wichtige Rolle:

«Wie gewalttätig es ist, zu sagen, ich sei anders geboren. Was, meine Schwester war dumm? Meine Mutter war weniger Bürgerin als ich? Das ist absurd und gewalttätig. Und meine Art des Erzählens soll diese Gewalt rückgängig machen, die häufig mit solchen Geschichten über Flucht kommt.» 

 

Die Verlierer sind die Gewinner

Beim Zuhören muss ich immer wieder schmunzeln. Ähnlich wie beim Lesen seiner Bücher fühle ich mich bestärkt, wenn Edouard Louis von seiner mühseligen Vergangenheit erzählt. Obwohl er früher gelitten hatte, kann er erstaunlicherweise Gutes daraus schöpfen. Als ich frage, ob es denn nicht unglaublich schwierig für ihn war, widerspricht er mir und meint, seine Selbstfindung war wunderschön: 

«Ich glaube es ist sehr reizvoll für schwule Männer, die sich im Widerspruch zur männlichen Identität fühlen, die von ihnen im Alltag erwartet wird… seltsamerweise, bevor ich überhaupt das Wort schwul kannte, oder die Idee einer schwulen Community, war ich spontan angezogen zu dem, was ich später als Teil einer schwulen Community erkennen würde.» 

Er erzählt von Ikonen wie Britney Spears oder Simone de Beauvoir, die ihm seine Existenz (oder seinen Körper, wie er sagt) ermöglichten und ihn in seiner schwulen Subjektivität prägten. Tatsächlich kenne auch ich das Befreiungsgefühl, wenn ich mich mit anderen Queers über ebendiese Ikonen aus der Kindheit austausche. Dieses Phänomen wird mir noch klarer, als Edouard Louis mir seine Erklärung liefert: «Ich bin lieber auf der Seite von Simone de Beauvoir als auf der Seite meines Vaters», meint er. «Du hast mich erniedrigt, aber du wusstest nicht, dass ich zu einer wundervollen Gruppe gehöre. Und wundervollen Menschen. Und du wusstest es nicht und jetzt weiss ich es und es ist eine Rache gegenüber all den erniedrigenden Gefühlen, durch die ich gegangen bin.»

Aus Scham wird Stolz, aus Erniedrigung Rache. Früher waren wir die Verlierer, doch eigentlich haben wir gewonnen.

 

Ansprüche

«Wie es für mich wäre, wenn ich heute 17 Jahre alt wäre? Ich glaube, es wäre schwieriger.» Wir reden über die heutige LGBT+ Community und Edouard Louis distanziert sich klar von der Floskel, dass heute alles besser wäre. Edouard Louis engagiert sich neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller auch in der Black-Lives-Matter Bewegung und war mit den Gelbwesten auf der Strasse - und trotzdem nimmt er andere LGBT+ Aktivist*innen in Schutz, die weniger intersektional sind und innerhalb der Community kritisiert werden: «Sie können nicht nur LGBT Aktivist*innen sein, sie müssen zeigen, dass sie auch antikapitalistisch sind, antirassistisch. Und ich will, dass sie das sind. Aber an welche Bewegung haben wir die selben Ansprüche? Und was sagt dies darüber aus, wie die Gesellschaft LGBT Menschen wahrnimmt? Diese Art der Kritik kann ein Weg sein, Menschen zu eliminieren, anstatt sie willkommen zu heissen.» 

Natürlich gäbe es auch Wege, die queere Community zu kritisieren und gleichzeitig grosszügig zu bleiben, meint er. Um auf Lösungen zu kommen, landen wir über Umwege plötzlich bei Drag Shows: «Es so gut zu versuchen, wie wir können, politisch, als Gruppe, es zusammen zu versuchen; Das ist, was eine Drag Show ist. Und das ist insbesondere stark!»

Als ich ihn frage, ob er denn selbst schon einmal Drag ausprobiert hat, verneint Edouard Louis. Er würde es aber gerne einmal probieren. Wir lachen und fühlen uns verbunden. Ein Hoffnungsschimmer breitet sich in mir aus.

Text: Claudio Näf, Aktivist bei der Milchjugend

 

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