Denn schwul sind wir immer noch. Und das ist gut so.

In «Aber schwul bin ich immer noch» von
Dimitri Grünig wird anhand von Zeichnungen
und Texten die Geschichte eines fiktiven Protagonisten erzählt, der sich Konversionsmassnahmen unterzieht, weil er schwul ist. Eine Rezension.

Das Buch von Grünig, welches auf seiner Abschlussarbeit als Illustrator beruht, erzählt die Geschichte eines fiktiven schwulen Mannes, der aufgrund seiner religiösen Überzeugungen und seinem freikirchlichen Umfeld, Konversionsmassnahmen in Anspruch nimmt. Versprochen wird ihm «Heilung», wenn er denn will. Nachdem er das Programm drei (!) Mal durchlaufen hat, kommt er jedoch zum Schluss: «Aber schwul bin ich immer noch.»

Die Aufmachung des Buches erinnert an eine Bibel: Lederartiger Einband und Lesebändchen, aber mit dickem Papier, auf dem Illustrationen und kurzen Textpassagen gedruckt sind. Als Vorwort dient ein Gespräch zwischen Grünig und dem Gründer von Zwischenraum, einem Netzwerk für gläubige LGBTIQ+ Personen. Auch ein Glossar mit Begriffen und Personenbeschreibungen rund um die Thematik ist zu finden. Zuletzt wird auf weiterführende und vertiefende Literatur verwiesen. 

Detaillierte Bleistiftzeichnungen zeigen Seen, Kirchenbänke, Kieswerke, Wälder und immer wieder den Blick aus dem Zugfenster auf vorbeiziehende Landschaften –Sujets des Berner Oberlands, einer Hochburg christ-evangelikaler Gemeinden. Auch Grünig selbst ist dort aufgewachsen. Die Religiosität teilt Grünig nicht mit dem Protagonisten, das Schwulsein aber schon. So erzählt das Buch die Geschichte von Menschen, mit denen Grünig über Gott und den Glauben, über Homosexualität und den Kampf damit gesprochen hat. Die inneren Kämpfe und die Zerrissenheit zwischen der Loyalität Gott und der Gemeinde gegenüber, die im Gegensatz zur eigenen Identität steht, führt in seelische Abgründe, zu Suizidgedanken und tiefster Verzweiflung. Muss der Glauben über Bord geworfen werden, wenn man sich selbst sein will oder gibt es einen Weg, die Homosexualität abzulegen? Der Protagonist versucht Letzteres und scheitert. Die Massnahmen zeigen keine Wirkung und er steht kurz davor, aufzugeben. 

Das grosse Leid, welches durch diese Massnahmen hervorgerufen werden, ist stark in den Bildern vertreten. Nur ein einziges Mal sind Menschen zu sehen, an einem Bahnhof, die aber in Zeitung vertieft und mit dem Rücken zu uns stehen. Der Protagonist bleibt allein mit seiner Verzweiflung und seinem Schmerz, obwohl er im Gruppensetting der Massnahmen eigentlich auf Leidensgenossen trifft. Aber ihnen wäre es laut Regeln verboten, sich ausserhalb der Gruppe auszutauschen. Man begegnet sich sowieso, in der Kirche, im Dorf. Dennoch wird geschwiegen, über den gemeinsamen einsamen Kampf.

Auch ich fühle mich etwas verloren im Buch. Irgendwie passen die Bilder und die handschriftlichen Notizen dazu nicht ganz zu den Textpassagen des Erzählers. Vorwort und Glossar vermitteln den Eindruck einer Reportage, der kurze Abriss am Schluss über die rechtliche Situation in der Schweiz und dem aktuell in der Politik diskutierten Verbot von Konversionsmassnahmen für queere Menschen haben etwas Aktivistisches. Und doch ist das Buch weder Reportage noch Recherche oder Manifest, auch kein Bildband und keine Erzählung. Es ist ein Mix aus all diesen verschiedenen Genres und das macht es mir schwierig, mich darauf einzulassen. Und doch bringt es mich zum Nachdenken. Habe auch ich mit meiner meist homosexuellen Neigung gekämpft, wenn auch nicht wegen religiöser Überzeugungen? Definitiv. Aber nicht auf diese Art. Mit meiner sexuellen Identität habe ich gekämpft, weil sie vermeintlich heterosexuell war. Mir hätte man im evangelikalen Umfeld eher Konversionsmassnahmen nahegelegt, weil ich trans bin. Ein wichtiger Punkt, der leider im Buch ganz weggelassen wird. Obwohl meistens cis schwule Männer davon betroffen sind, so hätte zumindest im Glossar beim Eintrag «Konversionstherapie» erwähnt werden müssen, dass diese auch lesbische Frauen und trans Menschen betreffen können und dass gerade letztere bei der politischen oder medialen Diskussion um ein Verbot häufig ausgeblendet werden. 

Trotzdem zeigt Grünig eindrücklich auf, wie verheerend die Folgen sind und wie dringend ein Verbot ist. Das Buch ist ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen. Die Abschlussarbeit trug noch das «Sorry» im Titel. Glücklicherweise wurde das geändert. Denn schwul sind wir immer noch. Und das ist gut so.

 

«Aber schwul bin ich immer noch»,
Dimitri Grünig. edition clandestin.
2023. 128 S., 38 CHF.

 

Text: Sigmond Richli