Von «Dauerfreundschaft» und «Hypersexualisierung»

Monogamie vs. Polygamie: So ein gängiger Disput in unserer Community. Was uns ein Blick in die Geschichte lehrt, verrät dieser Artikel.

Die Community-Umfrage von Pink Cross im letzten Jahr zeigte deutlich: Schwule können nicht nur monogam – über ein Drittel der Befragten leben ihre Beziehung offen. Viele in unserer Community mag das kaum überraschen. «Offene Beziehung» scheint genauso zum Vokabular eines schwulen Lebens zu gehören, wie «Regenbogenflagge», «Pride» oder «Coming-out». Trotzdem befürchten manche, dass die Monogamie langsam überhandnehme und die scheinbar spezifisch schwule Lebensweise der häufig wechselnden Sexualpartner verdrängen werde. Denn nicht alle mögen sich diesem Nimbus der schwulen Promiskuität beugen, sondern leben ihre Beziehung lieber monogam, quasi «klassisch». Eine Entwicklung, die – so die Kritiker*innen – zusätzlich befeuert worden sei durch die Ehe für alle. Denn die Ehe sei der Inbegriff monogamer Verbürgerlichung. Schliesslich stehe im Zivilgesetz, Artikel 159 ja: Die Eheleute «schulden einander Treue».1 Manche der Monogamen wiederum werfen den «Offenen» einen ausschweifenden, ja tugendlosen Lebensstil vor, der vielleicht sogar das öffentliche Bild der Schwulen insgesamt in ein schlechtes Licht rücke. Doch sind die Fronten in diesem Streit tatsächlich so verhärtet? Ein Blick in die Geschichte mag uns Aufklärung verschaffen.

 

Mehr als eine Norm

Der deutsche Historiker Benno Gammerl zweifelt an dieser Erzählung. In einem Artikel über die Entwicklung der Community seit den 1960er-Jahren beschreibt er, dass sich diese Fronten einander gar nicht so polar gegenüberstehen – also nicht: Progressive, offene, polygame Schwule vs. konservative, geschlossene, monogame Schwule. Vielmehr gebe es ein «komplexes Geflecht von Bezügen und Positionen».2 Zwar gab es in den 1970er- und frühen -80er-Jahre durch die Schwulenemanzipation natürlich neue sexuelle Freiheiten. Und natürlich habe es bereits damals jene gegeben, die die Monogamie oder die Forderung nach einer Ehe als bürgerliches Übel ablehnten. Die Kritik an dieser Position aber sei nicht nur von konservativen Schwulen gekommen, die bemüht waren, der Öffentlichkeit zu beweisen, wie tugendhaft eine mannmännliche Liebesbeziehung gelebt werden könne. Kritik sei nämlich auch von linken Schwulen gekommen, die gegen «Hypersexualisierung» in der schwulen Community protestierten und in dieser Hinsicht von «konsumorientierten Umgangsformen» sprachen, die «menschlich normale Kontakte unmöglich» machen würden.3 Nur schon der Hinweis darauf zeigt uns, dass die Fronten nicht so klar verliefen – und wohl auch heute nicht so klar verlaufen. Und Gammerl zeigt mit seinem Aufsatz auch auf, dass sich schon früh eine Art «Doppelnorm»4 etabliert habe: Beide Lebensformen – die monogame und die polygame – seien in Abgrenzung zur jeweils anderen zu einer etablierten Form des schwulen Zusammenlebens geworden, zu zwei unterschiedlichen Fluchtpunkten, an denen man sich aus unterschiedlichen Gründen orientieren könne. Diese verschiedenen Normen in unserer Community scheinen aber noch tiefere Wurzeln zu haben, wie wir sehen, wenn wir den Blick noch weiter in die Vergangenheit zurückschweifen lassen.

 

Ein ewiges Thema

Wenn wir auf Kontaktanzeigen in der erste Homosexuellenzeitschrift der Schweiz in den 1930er-Jahren, dem «Freundschafts-Banner», schauen, so finden wir reihenweise Kontaktanzeigen, in denen nach einer «Dauerfreundschaft» gesucht wird, also einer auf Dauer angelegten Liebesbeziehung. Und auch im Homophilen-Magazin «Der Kreis» aus den 1940er- bis 1960er-Jahren eröffnet sich in vielen Kontaktanzeigen der Wunsch nach einer «bleibenden und wahren Freundschaft» oder die Suche nach einem «charaktervollen Freund».5 Das implizite Ideal dieser Zeitschriften: Eine monogame, auf Dauer angelegte Liebesbeziehung. Expliziter beschreibt dieses Ideal der Strippenzieher hinter dem Kreis, Schauspieler Karl Meier, genannt Rolf, in einem Vortrag, das 1961 im «Kreis» abgedruckt wurde, und von der «Ethik der Freundesliebe» handelte. Dort erklärte er: «Man kann eben hundert Abenteuer erleben, ohne innerlich berührt zu werden, und beim hunderteinten wird alles andere bedeutungslos. Wird von diesem Punkt aus gesehen die Ehe und die Dauerfreundschaft nicht eben doch sinnvoll und notwendig als sittliche Forderung?»

Doch herrschte im «Kreis» und somit in der Zeit vor den 1970er-Jahren tatsächlich nur das Ideal einer monogamen Zweierbeziehung vor? Ein überliefertes Zeitzeugengespräch von 1989 mit verschiedenen Männern aus dem Umfeld des «Kreis» eröffnet uns ein anderes Bild. Sie diskutieren über Monogamie und Polygamie und einer mit Jahrgang 1916 findet: «Wie bei Heterosexuellen gibt es doch einfach monogame Typen und polygame Typen. […] Die sind einfach veranlagt für ein monogames Verhältnis und haben Glück, wenn sie es finden […] und andere sind nun einfach nicht dafür eingestellt. […] Ich bin zum Beispiel nicht dafür geschaffen.»6 Auch hieraus erschliesst sich: Schon in den 1940er- und -50er-Jahren bestanden zwei Normen, die in komplexer Weise ineinander verschlungen waren.

 

Was nun…?

So taucht die Debatte um Polygamie und Monogamie, um offene oder geschlossene Beziehungen also stets immer wieder in neuem Gewand auf. Es ist niemals dieselbe Debatte, jede ist für sich spezifisch – und doch scheint sie uns und unsere Community zu begleiten. Doch viel spannender als die Frage, was denn nun die richtige schwule Lebensweise sei, ob es mit dieser oder jener Lebensform nun bergab gehe, ist womöglich die Erkenntnis, dass die schwule Community vielleicht eine gewisse Freiheit geniesst im (Er)finden der eigenen Beziehungsform. Denn: Während Heterosexuellen lange nur die Ehe als Beziehungsideal offenstand, waren Schwule oftmals freier darin, ihr Beziehungsideal für sich selbst zu definieren. Wer bereits aus der sexuellen Norm fällt, kann gerade so gut auch die Beziehung neugestalten. Und diese Freiheit könnte man noch heute nutzen: In einem Interview mit dem französischen Schwulenmagazin «Gay Pied» fand der Philosoph Michel Foucault 1981, dass Homosexualität eine historische Gelegenheit sei, die zur Verfügung stehenden Beziehungsschablonen nicht bloss nachzuahmen, sondern eigene Spielarten von Liebe, Zärtlichkeit, Sex und Zuneigung lustvoll zu erfinden. Statt einem moralisierenden Streit über die richtige schwule Lebensform, ein ergebnisoffenes Erfinden unseres Zusammenseins mit anderen in wertfreier Anerkennung anderer Lebensweisen.

Text: Tobias Urech

 

1 https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/24/233_245_233/de#art_159

2 Gammerl, Benno: Ist frei sein normal? Männliche Homosexualitäten seit den 1960er Jahren zwischen Emanzipation und Normalisierung, in: Bänziger, Peter-Paul; Beljan, Magdalena; Eder, Franz u. a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 236

3 Gammerl 2015, S. 235

4 Gammerl 2015, S. 239

5 Beide Beispiele aus der Beilage zum Kreis: Das Kleine Blatt – La petite feuille, Nr. 5, Mai 1952, in: Schwulenarchiv (sas) im Sozialarchiv, Ar 36.60

SOH: Aktion Zeitzeugen, Herbst 1989, in: sas, Ar 36.60, S. 73