Ehe für alle: Was in 40 Jahren passiert ist

Die Ehe für alle ist zum Greifen nah! Doch die Forderung die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen beschäftigt unsere Community nunmehr seit 40 Jahren und nicht immer herrschte eine solche Einigkeit für das Anliegen. Rolf Trechsel und Jan Müller blicken auf 40 Jahre Aktivismus zurück und erläutern was in dieser Zeit passiert ist...

Die Ehe für alle ist zum Greifen nah! Doch die Forderung die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen beschäftigt unsere Community nunmehr seit 40 Jahren und nicht immer herrschte eine solche Einigkeit für das Anliegen. Rolf Trechsel und Jan Müller blicken auf 40 Jahre Aktivismus zurück und erläutern was in dieser Zeit passiert ist.


Wie die Ehe dem Vierwaldstättersee entstieg

Die Aktion war so provokativ wie symbolträchtig: Am "Christopher Street Day" 1983 in Luzern wurde Die "Institution Familie" - gemeint war damit die Ehe - in einem schwarzen Sarg in den Vierwaldstätter versenkt. Damals ahnten die Aktivisten und Aktivistinnen kaum, zum welchem zentralen Thema diese Institution noch für die Bewegung werden sollte. Die Ehe wurde als
"autoritär organisierte Institution" ähnlich von Schule, Militär und Kirche betrachtet, in der das "autoritätsgläubige, sich unterwerfende Individuum" gezüchtet wurde, so die Zeitschrift
„anderschume aktuell".

So ideologisch uns die damalige Sprache vorkommt, die Kritik an der Ehe war berechtigt: Das Eherecht war noch durch und durch patriarchalisch, der Mann das "Oberhaupt" der Familie, der zu Finanzen, Kindererziehung und auch eine allfällige Berufstätigkeit der Frau das letzte (Macht)-Wort zu sprechen hatte. Die Vision der damaligen Schwulen- und Lesbenbewegung waren hingegen neue Beziehungsformen "neuer" befreiter Menschen. 

Mehr mit Verwunderung als mit Enthusiasmus wurde deshalb 1989 in der Szene die Nachricht aufgenommen, dass Dänemark die registrierte Partnerschaft einführt, mit der Schwule und Lesben eine eheähnliche Partnerschaft eingehen konnten. Warum sollte die Bewegung, die sich als Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs verstand, die uralte Ehe für sich beanspruchen? Zwar hatten gleichgeschlechtliche Paare durchaus rechtliche Probleme. Vor allem ausländische Partnerinnen und Partner erhielten oft keine Aufenthaltsgenehmigung, womit es praktisch
unmöglich wurde, eine solche Liebesbeziehung wirklich zu leben. Lösungen suchte man hier aber eher im Ausländerrecht als in der „Homoehe". Zwar befürworteten die Homosexuellen
Arbeitsgruppen Schweiz HACH an einer Tagung 1989 zu den Lebensformen mehrheitlich eine Öffnung der Ehe. Eine anschliessende Umfrage bei den Mitgliedern ergab aber nur gerade 13% für diese Strategie. 46% wollte eine anerkannte Partnerschaft und 34% eine Verbesserung in Einzelbereichen. 

Die Skepsis gegenüber der "Homo-Ehe" zeigte sich auch an der von den Homosexuellen
Arbeitsgruppe Bern HAB organisierten Tagung 1989 in Solothurn. Der Basler Grossrat Erwin Ott forderte beispielsweise an dieser Tagung die Abschaffung der Ehe als "konservatives
repressives Element" und eine staatlich anerkannte Lebensgemeinschaft auch mit mehr als 2 Personen. Es zeigt das Selbstbewusstsein, aber vielleicht auch etwas die Selbstüberschätzung der damaligen Lesben- und Schwulenbewegung, neue Beziehungsmodelle für die gesamte Bevölkerung entwickeln zu wollen. Die heftige Kritik an der Ehe hatte durch das neue Eherecht, welches von der Gleichstellung von Mann und Frau ausging, zudem einen grossen Teil der
Berechtigung verloren. Zwar kann man sich auch heute noch fragen, warum Konkubinate und Ehen verschieden besteuert werden, warum nur dem Ehepartner ein Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht zusteht und ob die Ungleichbehandlungen bei den Sozialversicherungen
berechtigt sind. Verheiratete Paare haben aber neben Privilegien durchaus auch ganz
handfeste Nachteile bei Steuern und AHV in Kauf zu nehmen, so dass die damals verbreitete Klage über die "unberechtigten Privilegien" der Ehe heute etwas deplatziert tönt.

Sowohl in den Schwulen- wie in den Lesbenorganisationen setzte sich letztlich die Realpolitik durch: Mit den begrenzten Kräften der Bewegung war es bedeutend einfacher, die
Gleichstellung, also die Eheöffnung, zu verlangen, als ein wolkiges neues Beziehungsmodell zu lancieren. Mit der zeitlichen Distanz zur 68er-Bewegung stieg zudem das Bedürfnis bei Lesben und Schwulen, sich auch öffentlich das Ja-Wort geben zu können. Die 1994 von einem Komitee lancierte und von den Lesben- und Schwulenorganisationen unterstützte Petition "Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare" setzte denn auch die Gleichstellung ins Zentrum,
allerdings ohne ausdrücklich die Eheöffnung zu verlangen. Diese taktische Unschärfe war
gewollt, da man so die Gegner der Eheforderung in den eigenen Reihen nicht herausforderte und in der Öffentlichkeit eine grössere Akzeptanz fand. 

Justizminister und Bundesrat Arnold Koller (CVP) schubladisierte allerdings das Begehren
jahrelang und war auch durch die Wecker-Aktion 1998 vor dem Bundeshaus nicht um den Schlaf in dieser Frage zu bringen. Es war seine Nachfolgerin und Parteikollegin Ruth Metzler, die schliesslich den Weg deblockierte, der 2007 zum Gesetz über die eingetragene Partnerschaft führte. Dieses lehnte sich stark an das Eherecht an, allerdings mit Diskriminierungen im Bezug auf die Adoption von Kindern. 

Diese Nähe zur Ehe war nicht selbstverständlich, hatten doch damals Frankreich mit dem PACS und auch Deutschland mit der "eingetragenen Lebenspartnerschaft" neue eigenständige
Partnerschaftsregelungen getroffen. Europäisch setzte sich aber immer mehr die simple
Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule durch, oft mit gewissen Ausnahmen bei der
Adoption. Die Partnerschaftsgesetze, die 2001 im Kanton Genf und 2003 im Kanton Zürich in Kraft traten und eine "Ehe light" brachten, wurden schon bei der Einführung als erste Etappe und nicht als endgültige Lösung betrachtet. 

Die Abstimmung im Kanton Zürich ermöglichte es aber den Lesben- und
Schwulenorganisationen, ihr Knowhow in Bezug auf Abstimmungen aufzubauen und ihre Chancen vor dem "Volk" auszuloten. Diese waren intakt und so konnte die eidgenössische Volksabstimmung 2005 mit einer klaren, aber nicht überwältigenden Mehrheit von 58%
gewonnen und das Gesetz 2007 eingeführt werden - mehr als 17 Jahre nach Dänemark. "Ja wir wollen", war und ist einer der vielgehörten Slogans. Die im Vierwaldstättersee versenkte Ehe ist aus den Fluten auferstanden. Aber mit einem neuen Gesicht. 

Rolf Trechsel
Geschäftsleiter Pink Cross 1994-2000, (Co-) Präsident Pink Cross 2004-2006 und 2014-2016

 

2021 - Ja, wir möchten noch immer! 

Seit der Einführung der eingetragenen Partnerschaft sind rund 14 Jahre vergangen und die queere Community wartet inständig auf die Öffnung der Ehe. Denn gleichgeschlechtliche Paare haben auch im Jahr 2021 noch immer nicht das Recht, sich das JA-Wort zu geben und zu
heiraten. Die eingetragene Partnerschaft bietet deutlich weniger Rechte und zwingt dazu, sich ständig zu outen. Damit werden Hunderttausende Lesben, Schwule und Bisexuelle weiterhin diskriminiert! Doch die Ehe für alle ist zum Greifen nah: Das Parlament hat im Dezember 2020 mit deutlicher Mehrheit JA gesagt zur Öffnung der Ehe.

Bereits 1998 war die Ehe für alle ein erstes Mal auf dem politischen Parkett. Die grüne Nationalrätin Ruth Genner forderte am 18.12.1998 mit einer parlamentarischen Initiative die «Gesetzliche Voraussetzungen für die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare». Doch ihrer parlamentarischen
Initiative wurde keine Folge gegeben und es wurde einige Jahre ruhig um die Ehe für alle, denn die eingetragene Partnerschaft stand im politischen Scheinwerferlicht.

Der Weg der Ehe für alle mit den heute vorliegenden Gesetzesänderungen beginnt mit der parlamentarischen Initiative von Kathrin Bertschy im Dezember 2013. Obwohl dieser parlamentarischen Initiative Folge gegeben wurde, waren die folgenden Jahre geprägt von etlichen
Verzögerungen. Kein Wunder, bedenkt man die bürgerlichen Mehrheiten des damaligen
Parlamentes. Dann endlich startete vor rund 2 Jahren das Vernehmlassungsverfahren, dass die Sichtweisen der Öffentlichkeit einholte und eine wichtige Grundlage im politischen Prozess darstellte. Community-Organisationen, Religionsgemeinschaften oder kantonale Regierungen äusserten sich zur Ehe für alle – und die Zustimmung war enorm! 128 von 144 eingegangenen Reaktionen äusserten sich positiv gegenüber der Öffnung der Ehe, ein klares Signal an die Politik!

Im Juni 2020 startete die Ehe für alle in die heisse politische Phase mit einer Debatte im
Nationalrat. Dieser sprach sich deutlich für eine vollumfängliche Öffnung der Ehe aus, inklusive dem Zugang zur Samenspende für lesbische Paare. Doch zwei grosse Diskussionspunkte prägten die fortlaufende politische Debatte: Ist es eine Verfassungsänderung notwendig und soll der Zugang zur Samenspende doch nicht ermöglicht werden? Nein, findet eine
hauchdünne Mehrheit der ständerätlichen Rechtskommission. Die Ehe für alle soll mithilfe einer Gesetzesänderung eingeführt werden inklusive dem Zugangang zu anerkannten Samenbanken für Frauenpaaren. Am 18.12.2020 stimmt das Parlament in der Schlussabstimmung
entsprechend mit deutlicher Mehrheit der Ehe für alle zu – auf den Tag genau 22 Jahre nach der ersten parlamentarischen Initiative zur Ehe für alle.

Doch wie geht es weiter? Mehrere konservative Komitees sammeln Unterschriften, um das
Referendum gegen die Ehe für alle zu ergreifen. Dafür haben sie bis am 10. April 2021 Zeit.
Sollte ein Referendum zustande kommen, wird es voraussichtlich noch in diesem Jahr eine
Abstimmung über die Ehe für alle geben. Doch wir sind sehr optimistisch, eine mögliche
Abstimmung mit grosser Mehrheit zu gewinnen und bereiten uns bereits jetzt auf einen
bevorstehenden Abstimmungskampf vor!

Der Kampf für gleiche Rechte ist damit noch nicht beendet. Denn die gemeinsame Elternschaft ab Geburt wurde bei der Ehe für alle in gewissen Fällen bewusst ausgeschlossen. Im speziellen bei Kindern, die mit einer privaten Samenspende oder mit einer Samenspende im Ausland gezeugt wurden. Bei heterosexuellen Ehepaaren fragt hingegen niemand, wie das Kind erzeugt wurde: Der Ehemann ist immer der Vater. Diese weiter bestehende
Ungleichbehandlung muss schnellstmöglich beseitigt werden. Das spricht zwar nicht gegen die Ehe für alle, zeigt jedoch wie wichtig unser aller Engagement auch in Zukunft sein wird!

Jan Müller
Vorstandsmitglied Pink Cross, Vorstandsmitglied Kampagnenverein «Ehe für alle»