Interview mit Florent Jouinot

Ohne Florent Jouinot über LGBTIQ+-Gesundheit sprechen? Das geht kaum! Seit mehr als 12 Jahren ist Florent in der LGBTIQ+-Community in der Ro- mandie aktiv und wenn es um Gesundheit, insbe- sondere sexuelle Gesundheit geht, kommt mann*frau nicht um Florent herum...

Ohne Florent Jouinot über LGBTIQ+-Gesundheit sprechen? Das geht kaum! Seit mehr als 12 Jahren ist Florent in der LGBTIQ+-Community in der Romandie aktiv und wenn es um Gesundheit, insbesondere sexuelle Gesundheit geht, kommt mann*frau nicht um Florent herum. Mit dieser*m langjährigen Aktivist*in durften wir ein Gespräch über sein*ihren Werdegang bei VoGay, in der Jugendarbeit, im Checkpoint und seit vier Jahren bei der Aidshilfe Schweiz führen und die uns bevorstehenden gesundheitlichen Herausforderungen erklären lassen.

Du gehörst zu jenen Personen, die im Schweizer Welschland den LGBTIQ+-Aktivismus prägten und prägen. Was bewegte dich dazu, dich für die LGBTIQ+-Menschen einzusetzen?
Wie bei vielen engagierten Personen gründet das wohl auf meinen persönlichen Lebensweg und den Möglichkeiten, die sich boten. Die Schwierigkeiten, denen ich in meinem eigenen Leben begegnet bin, zeichneten den Weg vor und prägten meinen Charakter – mit seinen Stärken und Schwächen. Anfang der 2000er Jahre lebte ich in Paris und neben meinem Studium und meiner Arbeit hatte ich sehr wenig Zeit, um mich in einem Verein mit Haut und Haar zu engagieren. Langsam entdeckte ich dann die Internet-Tools, die einen direkten Austausch ermöglichten. Da kam mir die Idee, dass sie ein gutes Mittel sein könnten, um Men- schen mit wenig Kontakt und Fragen zu ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidenti- tät zu erreichen. Ich half dann beim Aufbau verschiedener Plattformen mit, auf denen sich LGBTIQ+-Menschen online treffen und austauschen konnten, bevor sie sich an den von uns organisierten Veranstaltungen zum ersten Mal physisch begegneten.

Du bist eine der Personen, die das Jugendprojekt im Kanton Waadt aufgebaut haben. Warum hast du gerade mit dem Einsatz für die Jugendlichen begonnen?
Meine Erfahrung zeigt, dass die Umstände, unter denen sich ein Mensch selbst entdeckt, formt und schliesslich verwirklichen kann, sehr weitgehenden den Rest seines Lebens beeinflussen. Wesentlich war für mich, einen Raum zu schaffen, in dem sich Gleichgesinnten austauschen und begegnen konnten. Als ich 2007 zu VoGay kam, gab es in Lausanne schon eine Anlaufstelle und monatliche Treffen. Sie wurden jedoch nur selten genutzt. Der Vorstand war dann einverstanden, mir diese Aufgabe und die Neu-Definition des Projekts in Freiwilligenarbeit zu übertragen. Ab 2012 erhielten wir nach und nach kantonale Finanzmittel. Sie ermöglichten, Fachleute einzustellen und unsere Tätigkeiten auszudehnen. Bei meinem Rücktritt 2016 beabeiteten wir dann jährlich mehrere Hundert Beratungs- und Betreuungsanfragen, mehrheitlich von Jugendlichen. Dutzende jugendliche Freiwillige hielten Vorträge an Schulen für Hunderte von Schülerinnen und Schülern. An den etwa 150 Treffen, die von ausgebildeten
Jugendlichen geleitet wurden, verzeichnete die Jugendgruppe jährlich mehr als 1‘500 Teilnehmende.

Was muss sich im Schul- und Ausbildungsumfeld noch ändern, damit die LGBTIQ+-Menschen eine Jugendzeit haben wie die anderen?
Jedes Leben ist einzigartig und das ist gut so. Für mich ist wichtig, dass jede*jeder selbst entdecken kann, wer sie*er ist, und dann unbeschwert zu sich selbst finden und vollumfänglich verwirklichen kann. Für das Schul- und Ausbildungsumfeld braucht es eine tiefgreifende Veränderung in der institutionellen Kultur. Bei der letzten Revision des waadtländischen Schulgesetzes und der zugehörigen Ausführungsverordnung konnten wir erreichen, dass der Gleichstellungsgrundsatz der Geschlechter und der sexuellen Orientierungen verankert wird, einschliesslich der Pflicht der Institutionen, ein spezifisches Präventionsprogramm einzuführen und bei jeglichem Hassvorkommen einzuschreiten. Für die Prävention und die Gesundheitsförderung ist für ein Gemeinschafts- und Teilhabe-Ansatz wichtig. Deshalb meine ich, dass die Jugendlichen im Schul- und Ausbildungsumfeld an der Ausarbeitung der Programme und Massnahmen sowie an deren Umsetzung beteiligt werden sollten.

Welchen Rat kannst den Jugendlichen geben, die ihre Anziehung zu Personen des gleichen Geschlechts entdecken und/oder feststellen, dass ihre Geschlechtsidentität nicht (ganz) dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde?
Aus meiner Sicht ist es wichtig, nicht allein zu bleiben mit all seinen Fragen, Ängsten oder Schwierigkeiten, die man nicht selbst überwinden kann. Sei es im Familien- oder Freundes-/Freundinnenkreis, im schulischen oder gesellschaftlichen Umfeld oder auch in den öffentlichen oder Community-, Gesundheits- und Sozialdiensten für Jugendliche gibt es immer mindestens eine Person, die bereit ist, dir zuzuhören, deine Fragen zu beantworten, dich zu begleiten und dich gegebenenfalls zu unterstützen.

2008 wurdest du Vorstandsmitglied von VoGay. Was hat dich motiviert, dich in einem Verein der Community zu engagieren?
Nebst den bereits erwähnten Aspekten fand ich es wichtig, mich für die Community politisch einzusetzen. Niemand darf denken, dass die rechtliche Gleichstellung vom Himmel fällt oder ein Recht auf ewig gesichert ist. Die Aufnahme in den Vorstand gab mir Gelegenheit, das politische System der Schweiz zu verstehen. Es lehrte mich Geduld und Kompromisse ... meilenweit entfernt von meiner französischen politischen Kultur.

Ausser dem Projekt für die Jugendlichen hast du dich ebenfalls im Gesundheitsbereich, insbesondere für die sexuelle Gesundheit eingesetzt. Was hat dich dazu motiviert?
Meine Mutter war Pflegerin und sensibilisierte mich sehr früh für das HIV. Ich glaube, dass sie schon vor meinem Coming out mit 14 Jahren etwas vermutet hatte. Als ich später in Paris lebte, hatte ich das Glück Menschen zu begegnen, die mit HIV leb(t)en. Sie erzählten mir ihre Geschichte. Viele sind verstorben, andere überlebten dank den neuen wirksamen Medikamenten. Durch sie lernte ich die Community-Organisationen kennen, die auch Präventionsarbeit leisteten. Die damalige Funktionsweise entsprach mir: Eine öffentliche Sitzung, in der sich jefrau*mann einbringen konnte mit dem Ziel, die anstehenden Aktionen gemeinsam zu be- schliessen. Das hat wahrscheinlich mein Konzept der Community-Aktion geprägt.

Du hast in den Checkpoints gearbeitet. Kannst du uns erklären, was diese Zentren machen?Ein Checkpoint ist ein Community-Gesundheitszentrum von und für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Anfänglich handelte es sich um ein internationales Konzept, das insbesondere bezweckt, der HIV-Endemie in dieser Community entgegenzutreten. Mit der Zeit wurden die Angebote jedoch erweitert (andere STI, medizinische Betreuung von Menschen mit HIV, PrEP, körperliche und psychische Gesundheit, Drogenkonsum ...). Bestimmte Checkpoints stehen jetzt auch für ein breites Publikum offen, insbesondere trans Menschen und/oder Frauen, die Sex mit Frauen haben (FSF).

Welche Motivation und Projekte hattest du, als du beim Checkpoint eingestiegen bist?

Die Idee begeisterte mich: Ich wollte zur Ent- wicklung eines Community-Projekts beitragen, das ein niederschwelliges Angebot für die Ge- sundheitsbedürfnisse der Community anbietet. Für mich war das etwas ganz Neues und meine Wissbegierde trieb mich an.

Im Checkpoint Waadtland fiel mir die Vermittler- rolle zwischen der Community und den Gesund- heitsdienstleistern zu. Mit einigen meiner Kollegen verrichteten wir Strassenarbeit, ich begegnete Menschen, beantwortete ihre Anrufe, ihre E-Mails und empfing sie im Zentrum. Mit gefiel diese Auf- gabe. Sie erlaubte mir, die Bedürfnisse der Com- munity im Zentrum einzubringen und im Gegenzug die Angebote des Zentrums in der Community bekannt zu machen.

2016 bist du zur Aidshilfe Schweiz übergetreten. Warum wolltest du ich auf nationaler Ebene engagieren?
Bereits in meiner Tätigkeit bei VoGay und im Checkpoint Waadtland arbeitete ich mit der Aids- hilfe Schweiz zusammen. Damals hatte ich das Gefühl, dass ein Ungleichgewicht zwischen den Sprachregionen besteht und die vorgesehenen nationalen Programme den Gegebenheiten und Bedürfnissen in der Romandie nicht immer entsprachen. In den regionalen und nationalen Koordinationssitzungen wies ich regelmässig darauf hin. Man hat mich dann fallweise gebeten, im Rahmen von nationalen Projekten Vorschläge für deren Umsetzung in der Romandie zu machen. Meine Stelle bei der AHS ist wohl eine logische Folge. Mit den Fachkenntnissen und Erfahrungen, die ich bei VoGay und in den Checkpoints erworben hatte, konnte ich Projekte in anderen Kantonen unterstützen, so zum Beispiel den Aufbau von Testzentren. Zudem setzte ich mich dafür ein, dass die Laboratorien den sexuellen Gesundheitszentren in der Romandie Vorzugspreise gewähren.

Wir haben viel über deinen Werdegang bei den Jugendlichen und deinen Einsatz für die sexuelle Gesundheit gesprochen. Es scheint aber, dass dir die Gesundheit der LGBTIQ+-Menschen ganz all- gemein sehr am Herzen liegt. Welches sind in die- sem Bereich deiner Meinung nach die grössten Herausforderungen?
Während den letzten 35 Jahren hat das HIV viele Energien und Finanzmittel mobilisiert. Dabei wurde die Aufmerksamkeit auf die Sexualität unter Männern gerichtet. Heute besteht die Hoffnung, diese Endemie überwinden zu können. Deshalb ist es jetzt möglich und notwendig, sich anderen, ebenso wichtigen Aspekten zu widmen. Seit 2010 wurden die psychische Gesundheit und Suizid- Prävention miteinbezogen (zumindest eine Zeit lang). In jüngerer Zeit wurde das Augenmerk vermehrt auch auf den Drogenkonsum, insbesondere den Chemsex, sowie die sexuelle Belästigung und die Hassgewalt gerichtet. Meiner Meinung nach ist es jetzt an der Zeit, zu einem ganzheitlichen Ansatz zurückzukehren, weil ja alle Themen miteinander verbunden sind. Natürlich können die Herausforderungen und Prioritäten von einer Bevölkerungsgruppe zu anderen unterschiedlich sein, erst recht, wenn auch die intersektionellen Aspekt mitberücksichtigt werden.

Du setzt dich seit mehr als zehn Jahren ein. Was bewegt dich dazu, noch weiter zu kämpfen?
Mein Wunsch wäre, dass andere, neue Personen den Stab übernehmen. Nachdem ich mich seit mehr als 10 Jahren in der Schweizer Community, insbesondere in der Romandie, eingesetzt habe, habe ich das Gefühl zu einem sehr kleinen Kreis von engagierten Personen zu gehören, die teilweise seit der Gründung der Organisationen (1990) mit dabei sind. Meistens klammern sie sich nicht an irgendeine Machtposition, wie es manchmal vorkommt. Es ist vielmehr so, dass sich keine wirkliche Nachfolge abzeichnet. Meine Befürchtung ist, dass damit nicht nur der Fortbestand des Community-Gedankens, sondern auch die Sinnhaftigkeit der Tätigkeiten in Frage gestellt ist. Die Rückmeldungen zu meinen Engagements und die Hoffnung, dass sich diejenigen Menschen einsetzen werden, die von unseren und mit mitgestalteten Projekten profitiert haben das motiviert mich dazu, weiterzumachen. Solange Bedarf, aber keine Nachfolge da ist, könnte ich gefragt sein und dann bin ich weiter dabei.

Interview: Muriel Waeger / Directrice Romande Pink Cross
Übersetzung: Max Krieg