Weckruf vor dem Bundeshaus: Verdoppelung der LGBTIQ-feindlichen Hate Crimes
Zum heutigen IDAHOBIT, dem Internationalen Tag gegen LGBTIQ-Feindlichkeit, veröffentlichen die Lesbenorganisation Schweiz (LOS), Transgender Network Switzerland (TGNS), Pink Cross und die LGBTIQ-Helpline den neusten Hate Crime Bericht.
Foto: David & Kathrin
Fast täglich wurde im Jahr 2023 der LGBTIQ-Helpline ein LGBTIQ-feindliches Hate Crime gemeldet: Insgesamt 305 Fälle. Der rasante Anstieg der Meldungen zeigt, dass das deutlich LGBTIQ-feindlichere Klima in den Medien und der Politik reale Konsequenzen auf die Sicherheit von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans, intergeschlechtlichen und queeren Personen hat. Mit einer Aktion auf dem Bundesplatz hat die LGBTIQ-Helpline heute auf diese besorgniserregende Situation aufmerksam gemacht und Medien, Politik und Zivilgesellschaft dringend zum Handeln aufgefordert.
Jedes Jahr am 17. Mai, dem IDAHOBIT (International Day against Homo-, Bi-, Inter- and Transphobia), veröffentlichen die LGBTQ-Dachverbände Transgender Network Switzerland (TGNS), Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und Pink Cross den Bericht zu LGBTIQ-feindlichen Hate Crimes in der Schweiz. Dieser basiert auf Meldungen bei der LGBTIQ-Helpline, der Meldestelle für Hate Crimes und Peer-Beratungsstelle für LGBTIQ-Personen. Die LGBTIQ-Helpline wird von den Dachverbänden getragen.
Die Meldungen von LGBTIQ-feindlichen Hate Crimes haben einen neuen Höchststand erreicht: Von 134 im Jahr 2022 haben sie sich auf 305 Meldungen im Jahr 2023 mehr als verdoppelt. Dabei betrafen 40% der Hate Crimes binäre und nicht binäre trans Personen. Anis Kaiser, Leitung Advocacy von TGNS, zeigt sich besorgt: “Die negative Stimmung, die durch transfeindliche Medienbeiträge und politische Vorstösse geschürt wird, hat reale Folgen. So erfahren wir in den letzten Monaten viel stärker offene Anfeindungen und Gewalt – selbst am helllichten Tag auf offener Strasse. Diesem Hass müssen wir uns als Zivilgesellschaft entschieden entgegenstellen!”
Mit der Aktion «305 Stimmen gegen den Hass» hat die LGBTIQ-Helpline heute auf dem Bundesplatz auf die untragbare Situation aufmerksam gemacht: Zeitgleich klingelten 305 Telefone, stellvertretend für die 305 Meldungen, die im Jahr 2023 bei der Helpline eingegangen sind.
Milo Käser, Projektleiter der LGBTIQ-Helpline, erläutert: “Hinter jedem Telefon und jeder Meldung steht ein Mensch, der im letzten Jahr ein LGBTIQ-feindliches Hate Crime erleben musste. Mit dieser Aktion wollen wir die Politik und Gesellschaft aufrütteln: Es braucht unbedingt Massnahmen gegen die Diskriminierung und Angriffe gegenüber LGBTIQ-Personen.” Neben der Meldestelle betreibt die LGBTIQ-Helpline ein Peer-Beratungsangebot, wodurch die Betroffenen von Hate Crimes direkt Unterstützung erhalten können. Ein Drittel nutzten dieses Angebot.
Obwohl die LGBTIQ-Dachverbände seit einigen Jahren vor einer Zunahme von Angriffen warnen und politische Massnahmen fordern, blieb die Politik bisher untätig. Alessandra Widmer, Co-Geschäftsleiterin der LOS, fordert: “Es braucht nun endlich Massnahmen von Bund, Kantonen und Städten. Konkret fordern wir breite Präventions- und Sensibilisierungsmassnahmen in der Gesellschaft, Ausbildungen bei Strafverfolgungsbehörden und Opferhilfestellen sowie einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung für trans Personen.”
Zudem fehlt es an finanziellen Mitteln für Beratungs- und Unterstützungsangebote für betroffene LGBTIQ-Personen, wie Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross, erläutert: “Fast alle Angebote der LGBTQ-Dachverbände sind prekär finanziert über private Spenden und Stiftungsbeiträge – auch die LGBTIQ-Helpline. Der Staat hingegen zieht sich aus seiner Verantwortung und lässt Betroffene und Ratsuchende im Regen stehen. Das muss sich nun endlich ändern!”
Download Hate Crime Bericht 2024
Medienmitteilung vom 17. Mai 2024
Hate Crime Bericht: Das Wichtigste in Kürze
Seit 2016 können LGBTIQ-feindliche Hate Crimes, Gewalt und Diskriminierung bei der «LGBTIQ-Helpline» gemeldet werden. Mit dieser Meldestelle soll das Ausmass der Gewalt und Diskriminierung sichtbar gemacht werden. Denn eine umfassende nationale Statistik fehlt bis heute und nur die wenigsten Kantone erfassen LGBTIQ-feindliche Tatmotive.
Der vorliegende Hate Crime Bericht umfasst alle Meldungen, die 2023 bei der LGBTIQ-Helpline eingegangen sind. Und die Zahlen sind alarmierend:
- Mit 305 Meldungen hat sich die Anzahl mehr als verdoppelt. de, keine Anzeige zu erstatten. Das ergibt im Schnitt fast sechs Hate Crime Meldungen pro Woche. Dies gegenüber dem Jahr 2022 mit 134 Meldungen und dem Jahr 2021 mit 92 Fällen.
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In knapp 70% der Fälle handelte es sich um erlebte oder beobachtete Beschimpfungen oder Beleidigungen. 64 Personen erlitten körperliche Gewalt, was 21% der Meldungen entspricht.
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40% der Meldungen stammen von trans Personen (binär und nicht binär) – ein neuer Höchststand. Wie im Vorjahr waren in gut einem Viertel (28%) aller Fälle nicht binäre Personen betroffen.
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15% der Hate Crimes wurden bei der Polizei angezeigt. Bei der Anzeige erlebten 40% der Meldenden Unterstützung, 19% eine sachliche Reaktion, 11% Ablehnung oder Herablassung sowie 13% Unwissenheit. Befürchtete Ablehnung, die Angst vor Täter*innen im Prozess, fehlendes Wissen und Einschätzung, dass der Vorfall keine polizeiliche Relevanz hätte, waren die verbreitetsten Gründe, keine Anzeige zu erstatten.
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Fast zwei Drittel (56%) der Hate Crimes wurden im öffentlichen Raum verübt – 25% auf der Strasse, 23% im öffentlichen Verkehr, an Haltestellen/am Bahnhof und 8% in Parks oder auf öffentlichen Plätzen. Die Meldestelle wird nur in seltenen Fällen für Hate Speech oder andere Online-Diskriminierungsfälle genutzt (11% der Meldungen).
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Zwei Drittel der Meldenden sind unter 30 Jahre alt – damit sind junge Menschen besonders betroffen.
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Hate Crimes sind für die Betroffenen längerfristig belastend. Bei knapp zwei Drittel der Meldungen werden psychische Folgen erwähnt.
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Fast die Hälfte der Fälle stammt aus dem Kanton Zürich mit 131 Meldungen. Wie letztes Jahr folgen darauf der Kanton Bern mit 36 Fällen, der Kanton St. Gallen mit 27 Fällen, der Kanton Aargau mit 22 Fällen und der Kanton Waadt mit 14 Fällen. Die grosse LGBTIQ-Community und daraus resultierender Sichtbarkeit kann die hohe Zahl der Fälle im Kanton Zürich erklären.
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Erstmals wurde im August 2023 eine repräsentative, nationale Studie zu «Hate-Crime-Opfererfahrungen in der Schweiz» im Rahmen des Crime Survey 2022 veröffentlicht. 35% der Menschen, die einer geschlechtlichen Minderheit (bspw. trans und intergeschlechtlich) angehören sowie 30% der Menschen, die einer Minderheit aufgrund der sexuellen Orientierung angehören, gaben an, in den letzten fünf Jahren Opfer eines Hate Crime geworden zu sein. Dabei erlebten 4% der homo- und bisexuellen Personen, respektive 6% der Personen einer geschlechtlichen Minderheit eine Tätlichkeit oder Körperverletzungen.
Im Vergleich mit den Meldestellen «Zürich schaut hin» und «Bern schaut hin» sowie mit den einzelnen, regionalen polizeilichen Erfassungen zeigen sich teils grosse Unterschiede. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Anzahl an Hate Crimes um ein Vielfaches höher ist als die Anzahl der Meldungen, die bei der LGBTIQ-Helpline eingehen. Es braucht daher dringend systematische statistische Erfassungen bei allen Polizeikorps und weitere wissenschaftliche Untersuchungen, um das Ausmass an Hass und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen zu erfassen.
Wir können nicht zuwarten!
2023 kam es nochmals zu einem massiven Anstieg an gemeldeten Fällen von Hate Crimes. Es vergehen kaum Tage, an denen die LGBTIQ-Helpline keine Meldungen verzeichnet. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Betroffenen, sondern auch auf die gesamte LGBTIQ-Community. Die Zahlen und Vorfälle sind erschreckend und müssen dringend zu staatlichen Gegenmassnahmen führen. Der im Juni 2022 vom Nationalrat geforderte «Aktionsplan gegen LGBTIQ-feindliche Hate Crimes» – mittels Postulats von Nationalrat Angelo Barrile (SP Zürich, ehemaliges Vorstandsmitglied Pink Cross) – darf nicht auf die lange Bank geschoben werden. Gemeinsam mit den Kantonen und Gemeinden ist der Bundesrat aufgerufen, griffige Massnahmen zu entwickeln und zu ergreifen, um LGBTIQ-Personen besser zu schützen und eine umfassende Nachsorge für Opfer zu ermöglichen. Die Schritte sind klar: Es braucht schweizweite, offizielle Statistiken zu LGBTIQ-feindlichen Vorfällen, breite Präventions- und Sensibilisierungsmassnahmen in der Gesellschaft, Bildung bei Strafverfolgungsbehörden und Opferhilfestellen sowie Schutzunterkünfte für Betroffene. Ausserdem zeigen die Zahlen, dass die Förderung und finanzielle Sicherstellung von spezialisierten LGBTIQ-Beratungsangeboten unabdingbar ist. Ein besonderes Augenmerk gilt der hohen Zahl an Hate Crimes, die trans Personen (binär und nicht binär) trifft. Hier fehlt es weiterhin an umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Verbreitung von Hass und Gewalt. Der fehlende politische Wille, nicht binäre Personen rechtlich anzuerkennen, führt zusätzlich zu einer weiteren Marginalisierung und Unsichtbarmachung. Ausserdem fehlt es weiterhin an einem umfassenden, rechtlichen Schutz aller LGBTIQ-Personen durch eine Ergänzung des Diskriminierungsverbots um «Geschlechtsidentität » und einen Diskriminierungsschutz am Arbeitsplatz sowie eine systematische Einbindung von LGBTIQ-Organisationen in politische Entscheidungsprozesse.